1000 Zettel

Der tausendste Eintrag in meinem Obsidian Zettelkasten

Heute habe ich den tausendsten Eintrag in meinen Zettelkasten geschrieben. Und ich freue mich sehr über diesen Eintrag, in dem es um den Inhalt von John Muirs Rucksack geht.

Der tausendste Zettel in meinem Zettelkasten Obsidian. Obsidian ist eine Zettelkasten-Software oder Wissensdatenbank auf der Basis von Markdown-Dateien. In dieser Wissensdatenbank kann man einzelne »Zettel« anlegen und diese mit anderen verlinken. Wichtigste Tools sind Tags, wie man sie von Wordpress oder anderen Blogs kennt und Links. Ohne Links ist ein Zettelkasten nichts. Über meinen Zettelkasten werde ich noch einmal ausführlich schreiben, heute möchte ich mich, ich gebe es zu, nur an meinem eigenen Fleiß erfreuen und diese Freude mit Euch teilen.

Am 29. August 2022 habe ich meinen ersten Zettel geschrieben und ich liebe die Zusammenhänge, die zwischen diesem ersten Zettel und meinem heutigen Eintrag bestehen und entstehen. Und mit dem Blick auf diesen ersten Zettel sehe ich auch, dass ich alte Zettel viel häufiger noch einmal, ja regelmässig besuchen sollte. So diesen. Er trägt die Aufschrift:

Ernst Bloch

Durch Fenster hindurch sieht man in eine unendliche Landschaft hinein.

Quelle: Bloch, Ernst : Vorlesungen zur Philosophie der Renaissance, Suhrkamp 1972, Seite 154

Es ist der Kommentar Ernst Blochs zu den Stadtansichten der Renaissance-Künstlers Jan van Eyck. Das Zitat gefiel mir. Eine unendliche Landschaft wie eine unendliche Geschichte. Ein sehnsuchtsvoller Ort. Wie etwas, das uns auf Reisen erwartet. Eine Unendlichkeit, in die wir uns selbst, aber auch unseren Geist hinausschwingen können, wie es Giordano Bruno ähnlich schon 1584 schrieb.

Es kommt nicht auf die Menge an

Lateralität und Fokus

Nun, nach mehr als einem halben Jahr Lektüre und Pflege meines Zettelkastens bin ich wieder in der Landschaft angekommen. Ich lese gerade vieles parallel und vieles lateral, lasse mich treiben von meiner Leselust und meinen Ideen und Interessen. So ging es von Hölzchen auf Stöckchen und von Ralph Waldo Emersons Tagebüchern zu den anderen Übersetzungen des Autoren, Germanisten und Übersetzers Jürgen Brôcan. Warum? Weil mich die Qualität seiner Arbeit anspricht, weil mich die Themen seiner Übersetzungen interessieren. Weil ich als Laie seine Sorgfalt mag. In der Liste seiner Arbeiten stach mir ein Buch ins Auge und dieses war »Bäume vernichten kann jeder Narr: Essays und Aufzeichnungen« von John Muir. Ein zur aktuellen Zeit der Naturzerstörung, Abwaldung und massenhaften Holzverbrennung mehr als passender Titel und so bestellte ich es gleich. Es kommt aber erst innerhalb der nächsten Tage zu mir, also stöberte ich ein wenig herum und begann damit in der digitalen Ausgabe von »Thousand-Mile Walk to the Gulf« des gleichen Autoren zu lesen. Reiseberichte lese ich zur Zeit relativ viele, aktuell meiner Mutter aus Theodor Fontanes Reisen durch den Spreewald vor. Ich mag es sehr, wenn Personen in Bewegung sind. Geistig und physisch. Der englische Text des bebilderten Buches des schottischen Autoren Muir sprach mich an und so ist dieser tausendste Zettel der Reise eines Naturforschers und Naturschützers gewidmet, der später zu den Mitbegründern des Sierra-Clubs gehörte. Sein Schreiben trägt die starken Züge viele Naturliebhaber und Naturphilosophen des 19. Jahrhunderts, bei ihnen fühle ich mich im Moment angesichts drohender ökologischer Katastrophen und der drohenden Zerstörung unserer Mitwelt  am meisten zu Hause. John Muir wurde am 21. April 1838 in Dunbar, Schottland geboren. Über seinen 1000 Meilen Marsch zum Golf von Mexiko schrieb er Tagebuch und aus jenem stammt dieses Zitat:

John Muir

Er fand dort nur einen Kamm, eine Bürste, ein Handtuch, Seife, Unterwäsche zum Wechseln, ein Exemplar von Burns' Gedichten, Miltons Paradise Lost und ein kleines Neues Testament, wartete auf mich, gab mir meine Tasche zurück und kehrte den Hügel hinunter zurück, mit der Begründung, er habe etwas vergessen.

Quelle: Muir, John : Thousand-Mile Walk to the Gulf; Houghton Mifflin Company; Boston and New York 1916, Seite 17f, Eintrag vom 10. September 1867. Übersetzung durch mich.

Weil er beinahe bestohlen worden wäre, listet er auf, was der potentielle Dieb mit seinem Rucksack beinahe an sich genommen hätte. Wie es mir als Wanderer erscheint, jedenfalls mehr ideelle, denn Sachgüter. Aus dem Konvolut aus Kamm, Bürste oder Wechselkleidung stechen drei Büchlein hervor, Gedichte des schottischen Dichters Robert Burns, das epische Gedicht Verlorenes Paradies von John Milton und ein kleines neues Testament, kein großes. Bitte beachten. Viel Literatur für 1000 Meilen.

Über die Landschaft Kentuckys schrieb Muir ein paar Zeilen vorher: »Das Meer aus weichem, gemäßigtem Pflanzengrün ist hier am tiefsten.« (ebd. Seite 14) Und so dreht sich der Kreis wieder zurück zu den Landschaften hinter den Architekturansichten von van Eyck. Auch dort dehnt sich die Landschaft endlos. Emersons Nachbar Nathaniel Hawthorne schrieb über die Unendlichkeit von Wiesen und wie sie sich gemütlich in die Landschaft erstrecken, in einer stillen Schönheit. Mit Muir wird sie ganz weich. Weich und gemäßigt. Weiche, gemäßigte, unendliche still sich erstreckende grüne wellige Schönheit. — Das berührte mich beim Lesen sehr.

1000 Zettel - Der Obsidian-Zettelkasten. Purpurfarben ist die Schönheit, mittelgrün sind alle Zettel zu Ralph Waldo Emersons Tagebüchern. Die 4 großen Themen sind aktuell Natur (links bei Emerson und Thoreau), Philosophie, Renaissance und Architektur. Der Zettelkasten hat seine eigene Schönheit.
Der Obsidian-Zettelkasten. Purpurfarben ist die Schönheit, mittelgrün sind alle Zettel zu Ralph Waldo Emersons Tagebüchern. Die 4 großen Themen sind aktuell Natur (links bei Emerson und Thoreau), Philosophie, Renaissance und Architektur. Der Zettelkasten hat seine eigene Schönheit.
Viele lose Enden

Der Zettelkasten

Der Zettelkasten steht exemplarisch für mein Handeln und mein Denken. Ich denke und handele oft nicht zu Ende. Bis zum fertig fehlen manchmal nur 2 %. Dennoch gelingt es nicht. Der Zettelkasten ist voller loser Anfänge und ausgefranster Enden (Stärker konnte ich es gerade nicht schreiben). Das ist nicht schlimm. Es wird schon einen Sinn ergeben, am Ende. Diese Vorgehen ist maximal lateral, aber in diesem, von außen manchmal sehr willkürlich und ziellos wirkendem Vorgehen unterstützt mich nicht nur mein aktueller Lieblingsautor, Ralph Waldo Emerson. Er schrieb am 7. Januar 1832, gerade mal neunundzwanzigjährig, in sein Tagebuch: »Indem ich daran denke, werde ich zu allerhand anderen Gedanken geführt, die sich zunächst teilweise, dann insgesamt zeigen. In ihrer Masse erkenne ich jedoch keine Ordnung. Wenn ich sie anderen darstellen wollte, hätten sie keinen Anfang. Es gibt keine Vorgehensweise. Lass sie und kehre später zu ihnen zurück. Domestiziere sie in deinem Geist, dränge sie nicht allzu rasch in eine Gliederung, dann wirst du bald feststellen, dass sie sich von selbst ordnen. Und die Ordnung, die sie annehmen ist göttlich.« Auch Robert M. Pirsig schrieb in seinem philosophischen Roman Zen und die Kunst ein Motorrad zu warten, über diese Lateralität: »Man schaut, wohin man geht und wo man ist, und nie kennt man sich aus, aber dann schaut man zurück auf den Weg, den man gekommen ist, und ein Grundmuster beginnt sich abzuzeichnen. Und wenn man von dieser Grundlage aus weiterbaut, dann wird vielleicht was daraus.«
(Quelle: Pirsig, Robert M. : Zen und die Kunst, ein Motorrad zu warten: ein Versuch über Werte. Übersetzt von Rudolf Hermstein. Fischer Taschenbuch Verlag GmbH, Frankfurt am Main, 1978. 146.-155. Tausend November 1986)

Den Zettelkasten habe ich im Rahmen meiner Forschungen zum architektonischen Leitsatz von Louis Henry Sullivan angelegt: »Form ever follows function«. Jetzt stecke ich bis zum Hals in der amerikanischen Naturphilosophie und im Transzendentalismus des 19. Jahrhunderts — und es ist gut so. Die Seele von Sullivans Theorem ist in meinen Augen in den letzten knapp 115 Jahren verloren gegangen und kann auch nicht in architektonischen Theorien des 20. Jahrhunderts wiedergefunden werden. Mein Grund Emerson zu lesen war, dass es sicher ist, dass L. H. Sullivan stark von den Thesen und Gedanken der Naturphilosophen geprägt war, als er am 23. März 1896 in Lippingcotts Monthly Magazine seine These über Hochhäuser veröffentlichte. 

Das Zurück zur Natur ist ja nicht nur eine hohle Werbephrase der achtziger und neunziger Jahre, es ist eine zwingende Notwendigkeit. Denn ohne sie können wir auf diesem schönen blauen Planeten, der, wie Emerson es schrieb, »durch einen kleinen Würfel am Rande des unermesslichen unausdenklichen Schachts der Leere fliegt«, nicht überleben. (Siehe Emerson : Tagebücher S. 392.)

Mein Dank gilt Dir lieber L. Danke, dass Du mich hierhin und hierin eingeführt hast. Es hat mein Leben verändert, bereichert, erweitert, mir einen neuen Horizont geöffnet und mir dort eine Linie gezeigt, zu der ich nunmehr erst ein halbes Jahr strebe. Bereits jetzt atme ich in diesem Gebirge schon klare, schöne, herrliche Geistlichkeit. 

tl, dr;

Ein kleiner Artikel über meinen tausendsten Eintrag in meiner Wissensdatenbank und meinem Zettelkasten Obsidian.

Quellen

  • Pirsig, Robert M. : Zen und die Kunst, ein Motorrad zu warten: ein Versuch über Werte. Übersetzt von Rudolf Hermstein. Fischer Taschenbuch Verlag GmbH, Frankfurt am Main, 1978. 146.-155. Tausend November 1986
  • Emerson, Ralph Waldo, und Jürgen Brôcan (Übersetzer) : Tagebücher: 1819-1877. Erste Auflage. Berlin: MSB Matthes & Seitz Berlin, 2022.
  • Muir, John : Thousand- Mile Walk to the Gulf; Houghton Mifflin Company; Boston and New York 1916 Webquelle: https://archive.org/details/thousandmilewalkmuir/page/n11/mode/2up 

Kommentare (1)

  1. Arne 08. Juli 2023

    Herzlichen Glückwunsch zu diesem wahrlichen Meilenstein! Ich bewundere deinen digitalen Zettelkasten und die Visualisierung deines Netzes aus Notizen und Zetteln ist inspirierend! Als Wander- und Wunderer-Kollege kann ich dir nur wünschen, dass dein Wissensdurst anhält und dass sich viele weitere Inspirationen aus deinem Zettelkasten entspringen!


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