Vorwärts fahren

Einmal wieder fahre ich Zug und lasse meinen Gedanken freien Lauf.

Einmal wieder fahre ich Zug und lasse meinen Gedanken freien Lauf. Ich blicke auf das Land, dass sich sich vor mir ausbreitet und im nächsten Moment bereits wieder verschwindet.

Heute fahre ich Bahn. Es ist Freitagmorgen, gleich schlägt es die halbe Stunde, die halbe Stunde vor sieben Uhr, um genau zu sein. Heute morgen, als ich um 5 Uhr 30 aus dem Haus ging, zwitscherten die ersten Vögel. Ein schöner Klang, noch ungewohnt und fast etwas plötzlich nach dem starken Schneefall zwei Tage zuvor. Der Klang kündigt den Frühling an, das Ende des Winters. Auch etwas, das zu meiner guten Laune beiträgt.

Ich fahre nicht mehr so oft Bahn wie vielleicht noch vor Corona oder gar noch früher. Ich registriere, auf dem Bahnsteig sind die gedruckten Wagenstandsanzeiger mit den aufgeklebten Zügen und den bunten 1. und 2. Klasse-Wagen verschwunden. Irgendwie war es schön, diesen Stolz des deutschen Waggon- und Lokomotivbaus, die horizontal alle in eine Richtung strebenden Züge zu sehen, alle unterschiedlich lang, mit kleinen Symbolen für Abteilwagen, das mobile Esszimmer sprich Speisewagen oder die Lokomotive, heute die Antriebseinheit an der Spitze. Auf Gleis 2 am Wuppertaler Hauptbahnhof zeigen sie alle nach Osten. Hauptbahnhof hieß er nicht immer: der Bahnhof hieß früher wie die Stadt Elberfeld und ich habe es genossen zu den Reisenden zu gehören, die überall in Deutschland gefragt wurden, wohin genau sie in Wuppertal wollten. So groß war Wuppertal, so viele Bahnhöfe hatte die Stadt. Heinrich-Böll-Zeiten. Zumindest schrieb er ein Gedicht darüber.

Wagenstandanzeiger und die Fallbuchstabenanzeige

Es ist noch nicht alles verloren

Früher ratterte die Klappbuchstabenanzeige, heute wird schnöde ein neuer Text am Bildschirm eingeblendet. Mit einem merkwürdigen Symbol darunter. Weiß ich nicht, sagt die junge Dame in dem einen noch verbliebenen, schmuddeligen Infohäuschen auf Gleis zwei, während sie sich den Träger ihres BHs verstohlen nach oben schiebt. Neben ihr bullert ein ebenfalls nicht besonderes sauberer Elektroofen gegen die Kälte, die durch die dünnen Scheiben dringt. Sie tritt hinaus und erklärt mir, was die zwei gemeinsam nach unten zeigende. Pfeile bedeuten. Die Zugreihung ist umgekehrt. Ich bin wirklich schon lange nicht mehr Bahn gefahren. Schade eigentlich.

Die Zeiten sind so. Früher sagte mir die Bahn am Bahnhof, wie es um den Zug steht. Heute steht es in der App. Finde ich die Info nicht. Mein Problem. Ich muss mir die Info holen, sie wird mir im Gegensatz zu früher nicht gebracht. In alten Zeiten, die nicht unbedingt nur gut waren, war auch jemand für den Bahnhof verantwortlich. Für die Reisenden. Die Menschen. Der Bahnhofsvorsteher. Manchmal ein netter Mensch, manchmal ein gefürchteter. Aber er trug die Verantwortung. Und im besten Falle lebte er sie. Aber Bahnhöfe sind für die Bahn nichts Wichtiges mehr, sie sind lästig. Man muss sie sauber und in Ordnung halten, aber das tut niemand mehr mit Verantwortung, das tun heute Reinigungsfirmen. Man darf auf Mindestlohn hoffen.

Vorwärts fahren - Es ist noch nicht alles verloren - für 2023 versprach die Deutsche Bahn den Wuppertalern einen schönen Bahnhof.
Es ist noch nicht alles verloren - für 2023 versprach die Deutsche Bahn den Wuppertalern einen schönen Bahnhof.

Ich gönnte mir für diese Fahrt nach Berlin ein 1. Klasse-Ticket und jetzt stehen meine bestrümpften Füße auf einem dunkelbeige-grau gestreiften Teppich. Die Schuhe habe ich mir ausgezogen, seit einer Weile habe ich manchmal leichte Fußschwellungen. Die Streifen des Teppichs sind verschwommen. Als hätte jemand bei zu hohem Tempo ein Foto davon gemacht.

Im Zug ist mir ein wenig warm und ich werde jetzt meinen Pullover ausziehen. In Berlin soll es kalt sein.

Über die unbequemen Schalensitze verliere ich kein Wort mehr, da waren die 1. Klasse-Abteilwagen aus den 70ern - meiner Meinung nach - bequemer. Draußen wird es jetzt langsam hell. Schon. Es ist ein sehr warmes Blaugrau. Der aus Nordosten wehende Sturm reist ein paar Wolken in Fetzen, die jetzt über die nackten unbeseelten Bäume von Hagen-Vorhalle hinweg treiben.

Herr C. vom Zugpersonal hat mich ausgesprochen nett begrüßt, ich schaue immer als erstes auf das Namensschild, so kann ich ihn mit seinem Namen anreden. So entsteht aus einem anonymen Gesicht vor meinen Augen eine Person. So entsteht Respekt. Wir unterhalten uns. Als er vor 26 Jahren angefangen hat, hatten die IC nach Hamburg noch einen Gepäckwagen. Kein leichter Job für einen 19-jährigen. Besonders das Rolltor war schwer und kaum hochzuziehen. Ich weiß, welchen Typ Gepäckwagen er meint.

Draußen sehe ich beim Vorbeifahren Güterwagen mit Tanks als Ladegut. Sie sind alle in der Mitte eingeknickt, als hätte sie jemand von oben mit der Faust geschlagen. Die orangen LED-Streifen der illustren Deckenbeleuchtung, die sich in der Scheibe spiegeln, verhelfen dem Horizont zu einer Art dauerhaftem gerberaorangem Sonnenaufgang. In der Spiegelung und mit der Durchsicht auf die vorbeihuschende Landschaft entsteht ein Farb- und Lichterspiel, dem Gesetz folgend, das Bewegungen und Ereignisse in der Zeit gliedert; dieses Gesetzt nannte Ludwig Eckardt Rhythmus. Weiss, weiss, rosablau, blau, orange, orange, blau, weiss, weiss. Es gibt bestimmt einen Sinn, eine verborgene Botschaft in diesem Code, ich sehe ihn nicht.

Ich habe schon einmal ein kleines Essay über das Zugfahren geschrieben. Damals fuhr ich nach Schleswig-Holstein und saß rückwärts, entgegen der Fahrtrichtung, zum Artikel: Rückwärts fahren. Heute kommt mir alles entgegen, flieht nicht aus meinen Augen zurück. Meine Zukunft liegt nicht nur zeitlich vor mir, auch physikalisch. Ralph Waldo Emerson schrieb am 13. November 1832, die ganze Zukunft läge auf dem Grunde des Herzens. Wenn das Herz einen Grund hat, ist es eine tiefe Schlucht oder ist es eine See, ein Meer und eigentlich unergründlich. Der Zug beschleunigt einmal mehr. Ich eile durch Raum und Zeit und wie nirgendwo sonst ist die Zeit unverrückbar mit dem Raum verbunden. Relativität. Der Zug bleibt in seinen Gleisen wie meine Gedanken. Schwerkraft hält ihn am Boden. Die Schwerkraft ist keine Funktion des Körpers, sie ist eine des Raumes. Das ist schwer zu verstehen. Wir denken, ein Apfel ist schwer. Aber es ist der Raum um den Apfel, der diese Schwere erzeugt.

Die Schwerkraft ist keine Funktion des Körpers, sie ist eine des Raumes; genau jenes Raumes, in dem ich mich gerade befinde. Für meine Sinne wird der Raum durch seine Abmessungen begrenzt, es ist das gerade stark durch Weichen schwankende Zugabteil, es ist die fleckige Landschaft, die sich hinter den etwa 160cm langen Scheiben ausbreitet, so weit wie mein Auge reicht, sagt man.

Dass es hinter dem Horizont weitergeht, das weiß ich aus meiner Erfahrung. Das er da ist, das nehme ich als gewiss an. Der Raum hinter dem Horizont könnte aber auch in diesem Moment verschwinden, ich wüsste es nicht.

Eine Durchsage. Wir erreichen Hamm in Westfalen; in Westfalen, das gehört bei Hamm dazu. Man kann nur aus einem anderen Hamm, oder aus Hamm in Westfalen sein. Mir fällt auf: die Scheiben des Zuges sind blitzblank geputzt. In Hamm wird unser Zugteil mit einem anderen Zugteil vereinigt. Eigentlich erst genau hier wird unser Zug zu einem Zugteil, eine von außen nicht sichtbare Transformation. Vorher war es ein ganzer Zug, jetzt nur noch ein Bruchteil. Die Hälfte. Fast unmerklich wird sie geschehen, exakt in der Sekunde zwischen dem letzten Ausrollen und dem Stehenbleiben. Was einst ein Zug war, wird durch die Transformation zu weniger, zu einem Stück vom Ganzen. Auch eine Reise hat ihre Proportionen, die Wirkung der Beziehungen der verschiedenen Objekte und Räume zueinander und zum Ganzen.

Hamm, in Westfalen, hat noch sein originales Bahnsteigdach, aber es ist schlecht gepflegt und jemand hat den Säulenfüßen kegelige Stümpfe angegossen. Ich gebe zu, ich verstehe nicht warum.

Jetzt steht der Zug zur Wiedervereinigung. Es rumst. Vereinigt. Es muss nur eine Kupplung einrasten, dann sind wir eine Summe. Kein Produkt, keine Exponentialfunktion, kein Integral oder Kalkül, wie es von Leibniz und Newton genannt wurde. Eine Summe kann jedes Kind berechnen, zumindest hoffe ich es. Das Kalkül der Bahn geht auf, diese Vereinigung kann jeder verstehen.

Meine Gedanken fliegen. Ich blicke über das große Bahnareal. Ich trauere den Zeiten nach, als alle, oder die meisten Züge noch gleich gefärbt waren. Grün, selten rot. Schwarze Loks. Dann grüne. Rote. Alles sehr gedeckt, zurückhaltend. Bescheiden. Vornehm. Ist Zurückhaltung nicht immer vornehm, oder manchmal auch feige?

Gerade standen wir noch, jetzt setzen wir uns wieder in Bewegung. Absurditäten, wie sie nur die deutsche Sprache vollbringt. Setzen ist ein aktiver Vorgang, eine dynamische Bewegung im von der Schwerkraft dominierten Raum, der in einem statischen Zustand des menschlichen Körpers endet. Das Ergebnis des Setzens ist es, dass der Körper dann ruht. Auch Steine werden gesetzt, oder Schrift. Es ist der Schriftsetzer gewesen, der aus diesem, dem Anschein nach dynamischen Text etwas Gesetztes, Bleibendes schuf. Man kann etwas in Bewegung versetzen. Ah. Wir kommen der Sache näher. Versetzen bedeutet, einen ruhenden Körper von einer Ruhelage an einem scheinbar fixen Ort - Ruhelage ist nur eine Illusion, die Erde ist immer in Bewegung - in eine neue Ruhelage an einem anderen Ort zu bewegen. Quasi wie die Sklaven der ägyptischen Könige die Quader für die Pyramiden versetzten. Und weil wir ihn versetzen, setzen wir ihn in Bewegung. Die Quadratur des Kreises, der Körper wird in den Zustand der Bewegung versetzt, in der er dann statisch ruht. Alles nur eine Frage der Perspektive. Und genau so ist es. Auch ich und mein iPad wurden in Bewegung versetzt und trotzdem ruht es auf dem ausklappbaren Tablett vor mir. Ich sitze im Zug, obwohl mich die ungeheure Energie der elektrischen Anlagen in Bewegung versetzt hat. Alles nur eine Frage der Perspektive oder des Gedankens des abgeschlossenen Systems. Auch ich könnte im Zug etwas in Bewegung versetzen. Meine Wasserflasche zum Beispiel. Aber Bewegung, in diese versetzen sich meine Mitreisenden von alleine. Die nervöse Dame mit der roten Handtasche auf Platz 26 hat sich augenscheinlich in Richtung Toilette in Bewegung gesetzt. In Bewegung gesetzt. Erklär es einem Briten. German language. You know.

Draußen. Die Welt, die scheinbar ruht, während ich rase. In ihr verschleiert jetzt Nebel die Konturen. In einem nahtlosen Übergang trüben die Milliarden feinen Wassertröpfchen die Konturen am Horizont bis hin zur Bruchkante der Welt, die ich nicht mit meinen Sinnen erfassen kann. Der Horizont.

Wo war ich stehengeblieben. Ein rhetorischer Witz. Das letzte Mal in Hamm in Westfalen.

Gedanklich war ich bei der Zeit. Der Zeit, die vor mir liegt, dem Wochenende, das ich mit meinem jüngsten Sohn verbringen werde. Zeit, die vor mir liegt, Lebenszeit, die wertvolle. Die wertgeschätzte Zeit. Die unwiederbringliche Zeit. Sie liegt vor mir. Ich kann sie erfüllen, anfüllen, mit Ahnungen, mit Befürchtungen, mit Erwartungen, dunklen und hellen Gedanken, Phantasie; ich kann Orte, Momente und Geschehnisse imaginieren, deren Eintritt in den Lauf der Zeit ich erst noch erleben werde. Ich denke an die Zeit in Berlin.

Ein Besuch im Antiquariat, ein Spaziergang an der Spree vielleicht, schöne Dinge sehen, und hässliche. Kaffee trinken. Zeit miteinander verbringen. Gemeinsam auf dem Zeitstrahl reiten, den Ablauf der Zeit gemeinsam erleben. Und genau in dem Moment, in dem sich die Zeit vor uns in die Zeit hinter uns verwandelt, in diesem nicht messbaren Moment, in diesen nicht kalkulierbaren Horizont zwischen gleich und vorhin, da können wir, oft plötzlich und unversehens, dann, wenn alle Ereignisse, der Ort, das Licht, die Gerüche und unsere Gefühle diesen Ereignishorizont zwischen Zukunft und Vergangenheit gleichsam und gleichzeitig überschreiten, etwas ganz besonderes erleben: Glück.

Der Zug hält in Bielefeld. Das holt mich auf den Boden der messbaren Tatsachen zurück.

Unser vereinigter Zug spricht jetzt auch englisch. Das tat er bis Hamm, Westfalen nicht.

In mir breitet sich ein nervöses Gefühl aus. Jetzt weiß ich, woher es kam. Ich habe auf Gleis 2 in Wuppertal meine Handschuhe liegen lassen. Sie gehörten meinem Vater. Ich sehe sie wohl nie wieder. Schon zweimal habe ich sie liegen lassen. Bedeutet das, ihr Wert war nicht hoch genug für mich? Es ist nicht zu ändern. Ich sage mir: Ärgere Dich nicht über etwas, dass Du nicht, vor allem nicht mehr, ändern kannst.

Der Verlust liegt jetzt hinter mir. Die Zeit, die ich an den Verlust denke, das ist die Dauer meiner gefühlten Qual. Auch wenn das Ereignis schon 2 Stunden zurück liegt, dauert die Wirkung des Ereignisses bis in die Zukunft hinein. Wenn ich sie lasse. Wenn ich sie über den Ereignishorizont zwischen Zukunft und Vergangenheit lasse. Ich lasse sie nicht. Mir geht es gut. Vielleicht lassen sich die Handschuhe wiederfinden, vielleicht nicht. Der Gedanke, der mich mit diesen Handschuhen verbindet, ist ein sentimentaler. Der Gedanke, dass sie meinem Vater gehörten. Ist es nicht auf eine Art verrückt, dass wir einen Gegenstand mit den Gefühlen beziehungsweise Erinnerungen an einen Menschen verbinden? Ja, und nein. Mein Vater ist vergangen. Seine Existenz liegt in der Vergangenheit. Sein Weg zum Ereignishorizont ging mit seinem Tode zu Ende. Meine Gefühle, meine Erinnerungen an ihn, sie haben diese stille Hügelkette der Zeit unter dem Himmel überdauert. Ein paar Gegenstände haben es über diesen Wall der Zukunft gegen die Vergangenheit geschafft. Im Gegensatz zu den Handschuhen kann ich die Erinnerungen an meinen lieben Vater, seine gütige, ruhige Art, seine Großherzigkeit nicht an einem Bahnhof liegen lassen. Ich verliere sie nur, wenn ich mir nicht die Zeit nehme, an ihn zu denken. Du existierst, so lange sich jemand an Dich erinnert, das sagt der Roboter Dolores in Westworld II.

Wir erreichen Hannover. Eigentlich bin ich für diesen Halt dankbar. Er unterbricht meine Gedanken. Der Halt gebietet meinem Gedankenstrom Einhalt.

Auf dem Bahnsteig Menschen. Ich betrachte sie und ihr Verhalten. Früher hat man seinen Koffer getragen. Er bewegte sich frei im Raum. Er war über den Griff und ein paar lose Scharniere mit seinem Träger verbunden. Aber er selbst schwebte frei im Raum. Heute klappern die zu kleinen Rädchen über den Bahnsteig, die Koffer, kleine unwillige Kinder, mit der rechten oder linken Hand vorwärts geschoben, drängeln sich widerspenstig den Aufzügen entgegen. Warum etwas über eine Treppe tragen, wenn es anderswo den Anschein erweckt, es würde neben einem her rollen.

Ich sitze auf der linken Seite des Zuges. Fahre ich von Westen nach Nordosten, sehe ich meist Richtung Norden in die unzähligen kleinen Äcker hinein und über sie hinweg. Über dem winterbleichen Grün der Tannichte (wie sie Fontane noch nannte) spannt sich ein totenbleicher Himmel. Kalt sieht es aus, unwirtlich, nicht mal ein Insekt würde diesen Wirt jetzt besiedeln wollen. Trotzdem hat diese kiefern- und lärchengrüne Landschaft, mit eingestellten rindenbraunen Strichen dazwischen, unzweifelhaft ihren Reiz. Ein Flickenteppich von bärtigem, nikotingelben Gras und Altschnee spannt sich unter den schiefen Zapfenträgern die Bahngleise entlang. Kommen Trassen oder Straßen, dann ist auch die menschliche Zerstörung nicht weit. Die Orte, an denen wir wahllos Blech, Stahl, Kunststoff und Stein zu hässlichen Gebilden aufhäufen und sie einfach unverzichtbar nennen. Die anderen Namen dafür sind Gewerbegebiet, Industriegebiet, Wirtschaft, aber eigentlich heißen diese Krebsgeschwüre Unverzichtbarkeitszonen. Wir haben uns scheinbar darauf verständigt, dass wir sie brauchen, wollen, weiter wachsen lassen. Dabei bräuchte es dringend eine Kombinationstherapie gegen diesen exurbanen Krebs, Strahlenbehandlung, Medikamente, Ernährungsumstellung, vielleicht, nein unbedingt sogar, eine Diät. Zuckerverzicht.

Wolfsburg. Mordor. Tausende Arbeitsplätze, die das Feuer der Mobilität am Laufen halten. Individuelle Mobilität zerstört den Planeten, nachweislich. Der Feinstaub des Reifenabriebs mindert die Befruchtungsfähigkeit von Bienen, das Automobil zerstört soziale Umfelder, Landschaften, Städte, tötet Menschen, killt den Planeten.

Wir müssen alles ändern. Uns selbst, unser Verhalten, unsere Gewohnheiten, unseren Besitz, unseren Konsum. Wir wissen es, wir können es aber nicht oder können es nur zu langsam. Zu langsam, während wir einen Ereignishorizont nach dem anderen überqueren. Alles geschieht so unfassbar schnell und dabei sind wir so träge. Die Verharrungskräfte sind riesig. Der Impuls, den es benötigt, um uns von der sitzenden, beharrenden, unreflektierten und uneinsichtigen Lage in eine Bewegung weg vom nächsten Ereignishorizont zu rücken, ist gewaltig. Selbst ein unvorstellbares Hochwasser wie an der Ahr genügte nicht, die Menschen aus ihrem geistigen Sitz herauszuheben. Sie möchten weiter CDU wählen. In Altersheim schafft es die Altenpflege bei manchen Menschen nur mit technischen Hilfsmitteln Menschen vom Bett in einen Stuhl zu versetzen, ja, sogar Kräne werden eingesetzt, um endlich jene Bewegung herbeizuführen, die so zwingend notwendig sind, damit sich Geist und Körper, Denken und Handeln an die veränderten Bedingungen anpassen. So wie wir nicht wissen, wie sich Berlin anhören, anfühlen, schmecken und riechen wird, weil wir noch nicht da sind, so wissen wir nicht welche Ansprüche die Zukunft an unsere Beweglichkeit stellen wird. Gargantueske Katastrophen kommen auf uns zu oder finden bereits zu anderen Zeiten und an anderen Orten statt.

Im Zug ist es still wie in einer Zeit- und Raumkapsel. Wir fühlen nicht, was draußen ist, wir hören nicht, was draußen ist. Wir sehen nur einen kleinen, 65 cm mal 160 cm großen Ausschnitt der Welt. Und wenn wir unseren Kopf senken und in der weichen Watte der digitalen Welt in unseren Händen versinken, dann sehen wir nicht mal mehr den.

Das Land ist jetzt flach. So erhaben die Strommasten ihre Arme auch in den Raum erstrecken, schlaff und traurig hängt der Strom von ihnen herunter. Schwerkraft ist eine Funktion des Raumes. Ein Raum, den mein Zug teilt, zerschneidet, entzweit. Nicht auf einer geraden Linie. Keine Linie ist gerade. Friedensreich Hundertwasser nannte die gerade Linie gottlos. Es gibt keinen Gott. Hier irrte Hundertwasser. Es gibt nichts Gottloses, wenn es keinen Gott gibt. Das ist doch mal was. Der Zug ist die Summe seiner Teile, die Summe dividiert den Raum. Was ich sehe ist der unteilbare Rest. Fragmentiert wie eine irrationale Zahl. So sieht es hinter Wolfsburg auch aus. Fragmentiert. Wie geschnittene Lorbeeren.

Wer Zahlen mag, der mag meist die in den Zahlen wohnende Harmonie. Die Fibonacci-Folge, Primzahlen, Palindrome, den goldenen Schnitt als pantheistische Harmonievollendung. Dem irrationalen Rest, der draußen vor meinem Fenster vorbeizieht, ist die Harmonie fremd, ja, Feind geworden. Der gute Geist, die harmonische Anordnung, jegliche Proportion, das schöne Maß - verloren gegangen. Vergessen. Aufgegeben. Aufgekündigt.

Der Zug bremst, die Knorr-Bremsen werden ihrem Namen gerecht, sie knarren, knacken und knurren wie schlecht gelaunte Hunde, als wir Nennhausen durchbremsen. Hinter einem grünen Blechzaun ist es gegen die schnelle Summe, die unser Zug bildet, eingesperrt. Das Kalkül geht für die Nennhausener nicht auf, sie können Zeit nicht dividieren. Der Zug hält nicht.

Die Farben sind irre. Leider kann ich noch nicht alle benennen. Das in dem Hang da vorne könnte Kasseler Grün sein.

Ob die Lokführer 100 verschiedene Worte für den Zustand des Gleises kennen, so wie die Inuit Wörter für Eis und Schnee? Wie gerade ist das Gleis? Jean Cocteau schrieb in seinem zweiten Prosa-Band, eine gerade Linie büßt ihre Geradheit nicht ein, weil sie die Richtung ändert. Auch wenn wir nur lose durch die Funktion des Raumes an die Erde gefesselt sind, mit dem Rad-Schiene-System, sind die Turbulenzen nichts gegen die Nutzung eines Flugzeuges zur Durchquerung des Raumes.

Ich kann es hören. Der Lokführer gibt Gas. Ich verlasse mich darauf, dass alles gut ist, mit dem fragilen technischen System unter mir. Das muss ich auch. Und es gelingt mir.

Ich strebe meinem Ziel entgegen, wie ein Bohnentrieb dem Licht. Es ist ein programmiertes Verhalten. Mein persönliches Kalkül geht auf. In 30 Minuten wird aus der Summe der beiden Zugteile ein Ergebnis. Die Ankunft.

Sehr geehrte Fahrgäste, wir erreichen Berlin Hauptbahnhof. Danke für die Mitreise.

tl, dr;

Mein Bewusstseinsstrom auf meiner Bahnreise nach Berlin am 3. März 2023. Ich lasse meinen Gedanken freien Lauf und ebenso wie die visuellen Fetzen, die wir im Vorbeifahren sehen sind auch meine Gedanken nur flüchtige Zeugnisse von vergänglichen Momenten.

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