François Rabelais

Rabelais heftige Renaissance-Völlerei, Lügengeschichten, Erdverbundenheit und Gargantua im Weltraum

Es gibt einen Grund, warum das schwarze Loch im Film Interstellar Gargantua heißt. Und was hat es mit der Rabelais'schen Saftigkeit auf sich, die Thomas Wolfe als Metapher nutzt? Der französische Arzt, Mönch und Renaissance-Autor ist die Antwort.

Dies alles führte mich auf wundersame Weise zu dem französischen Schriftsteller, Grobklotz und Schelm des 16. Jahrhunderts François Rabelais. Auf ihn ist auch der Begriff der Rabelais'schen Saftigkeit zurückzuführen.

Dies ist auch der Grund, warum ich mich mit dem Autor Rabelais und dem Begriff der Rabelais‘schen Saftigkeit beschäftige. Seit Anfang des Jahres bin ich im Buch Schau heimwärts, Engel! des US-amerikanischen Schriftstellers Thomas Wolfe auf Spurensuche,. Ich untersuche alle Phänomene, Metaphern, Autoren und Begriffe, die im Buch erwähnt werden und mir unbekannt sind.

Wie bin ich auf Rabelais und Gargantua, wie bin ich auf die Rabelais'sche Saftigkeit gestoßen? Es geht um dieses Zitat:

Schau heimwärts, Engel!

Er, der erdhafteste in der Familie, war voll von heftig-deftiger Vulgarität, hatte eine triebhaft-üppige, rabelais'sche Saftigkeit, äußerte sich spontan in gargantuanischen Bildern. Trotz Elizas Zeter und Mordio pißte er allnächtlich ins Bett. Das war gewissermaßen der letzte, abschließende Pinselstrich zum Bildnis seiner stotternden, pfeifenden, patzigen, sprudelnden, komischen Personalität. Er war Lukas der Einzige, Lukas der Unvergleichliche. Er war, trotz seiner zappelig-geschwätzigen Nervosität, ein gewinnender, liebenswerter Kerl. Der bodenlose Brunnen des Gefühls war tatsächlich in ihm. Er begehrte überschwengliches Lob für seine Guttaten, aber seine Menschenliebe und seine Zärtlichkeit waren tief und echt.

Im Original klingt der erste Satz etwas anders:

He was full of pungent and racy vulgarity: he had, more than any of the family, a Rabelaisian earthiness that surged in him with limitless energy, charging his tongue with unpremeditated comparisons, Gargantuan metaphors.

Quelle: Wolfe, Thomas: Schau heimwärts, Engel!, Rowohlt Verlag, Hamburg 1954 S. 93

Erdig, derb, direkt

Rabelaisian earthiness

Mmmh. Rabelaisian earthiness. Das Cambridge-Dictionary unterscheidet bei earthiness zwei verschiedene Bedeutungen: Erdigkeit (Direktheit) im Sinne von offen und direkt zu sein, oft in einer Weise, die sich auf Sex und den menschlichen Körper bezieht. Die zweite Bedeutung von Erdigkeit (Nahrungsmittel, Genuss) liegt laut dem Wörterbuch im Sinne von Erde, der Qualität, wie Erde oder Boden zu sein, in der Regel auf eine eher angenehme Art und Weise. 

Die Erdigkeit, die man mit der Bodenständigkeit von Rüben mit fleischigen Linsen, dem erdigen Geschmack von Pilzen verbindet. Wiktionary nennt zu earthiness auch die Bedeutungen Derbheit und Urigkeit, und mit diesen Begriffen lässt sich der deutschen Übersetzung vielleicht näher kommen.

Wolfe verwendet im englischen Ausschnitt des Buches oben ein Verb - to surge - wogen, das mit dem Meer, mit Wogen, Wasser und Wellen verbunden ist. Wolfes Übersetzer Schiebelhuth hingegen schafft ein statischeres Bild, das nicht mehr von der selben wogenden Unruhe und Energie angetrieben ist, sondern im eher negativen Sinne durch Triebhaftigkeit und Vulgarität definiert wird.

Wolfe vermittelt das Bild eines Menschen, dem eine wogende Energie innewohnt, mit rabelais'scher Direktheit, so würde ich es übersetzen, denn dazu passt das Bild von verbaler, sprachlicher Energie, die anbrandet, rasch anschwillt, steil und stark ansteigt, sich auftürmt, überflutet, betäubt, erschlägt, anprallt und dann wieder abebbt, um erneut aufgeladen zu werden.

Dem entgegen steht die Übersetzung des deutschen Dichters und Schriftstellers Hans Schiebelhuth, der aus der rabelais'schen erdverbundenen Direktheit eine ebensolche Saftigkeit macht. 

Ohrfeigen, Orangen, Wiesen

Saftig

Saftig ist ein Wort mit verschiedenen Bedeutungen:

- saftig: im Sinne einer saftige Orange - voller Saft,
- saftig: im Sinne einer saftige Wiese - strahlend, farblich gesättigt
- saftig: im Sinne einer saftige Ohrfeige, eine saftige Strafe - heftig, stark

Das etymologische Wörterbuch des Deutschen von Wolfgang Pfeifer kennt für das Wort saftig seinen mittelhochdeutschen Ursprung *saffic, saffec, seffic* und die Bedeutung war derb und zotig. Ich habe davon einen erdigen Begriff, frage mich gerade aber: warum?

In diesem Sinne dürfte es der, tief in der deutschen Sprache und im süddeutschen Dialekt verwurzelte Dichter Schiebelhuth wahrscheinlich gemeint - begriffen haben. Rabelais'sche Saftigkeit im Sinne einer vulgären Derbheit, einer zotige und derbe Witze machenden Sprache im Sinne und Stile von Rabelais

So möchte ich es jetzt gerne verstehen, nur wer ist jener François Rabelais, auf den sich dies alles zu beziehen scheint?

La Devinière, Aquarell von Louis Boudan, um 1700. Quelle: Wikipedia
La Devinière, Aquarell von Louis Boudan, um 1700. Quelle: Wikipedia
François Rabelais

Erdigkeit, Saftigkeit und Direktheit

Louis Boudan

Etwa zweiundzwanzig Jahre lang, wahrscheinlich von 1687-1709, war Louis Boudan im Auftrag von François Roger de Gaignières tätig, einem gelehrten Antiquar und Geschichtsliebhaber, der einen Zeichner suchte. Er entschied sich für Boudan, und das Duo wurde von Barthélemy Remy, der als Kammerdiener und Paläograph (Gelehrter von alten Schriften) fungiert haben soll, bei einer Tournee durch Frankreich zu Denkmälern und Archiven unterstützt, bei der mehr als 7.500 Orte, Gräber, Basreliefs, Objekte und alte Dokumente katalogisiert und Zeichnungen angefertigt wurden, die größtenteils nachträglich gestochen wurden. Das Ganze bildet die "Sammlung der Sammlung Gaignières", die König Ludwig XIV. angeboten wurde und heutezu großen Teilen in der Französischen Nationalbibliothek aufbewahrt wird. Die Sammlung gilt unter Historikern als besonders wertvoll, da Boudans Zeichnungen, Bilder und Radierungen Objekte und Landschaften wiedergeben, von denen einige für immer verschwunden sind.

Quelle: Louis Boudan, Wikipedia.fr

Wolfe erwähnt Rabelais in seinem Roman Schau heimwärts, Engel genau einmal, Gargantua aber insgesamt dreimal, und in der Regel geht es bei letzterem um ausschweifende Sprache oder riesige Portionen von Mahlzeiten. 

Rabelais und Gargantua stehen in direktem Zusammenhang, denn Gargantua ist eine Romanfigur des Renaissance-Schriftstellers, Mönchs und Arztes François Rabelais

François Rabelais wurde zwischen 1483 und 1494 in La Devinière bei Chinon/Touraine geboren und starb vermutlich im Alter von 70 Jahren 1553 in Paris. Vom Anwesen La Devinière gibt es ein schönes Aquarell von Louis Boudan, einem Zeichner aus dem 17. und 18. Jahrhundert. (Siehe oben) Als Kind des wohlhabenden Bürgertums erfuhr er klassische mittelalterliche Bildung: das Trivium und das Quadrivium. Nach Zeugnissen, die im 17. Jahrhundert verfasst wurden, begann Rabelais sein Leben als Seilmacher im Kloster La Baumette, bevor er in das Kloster Puy Saint-Martin in Fontenay-le-Comte eintrat. 

Nachdem Rabelais sehr früh in den Franziskanerorden eingetreten war, wechselte er später mit Erlaubnis des Vatikans zu den Benediktinern und wurde schließlich Weltgeistlicher. Dann studierte er Medizin in Montpellier. (..) Rabelais korrespondierte u.a. mit Erasmus von Rotterdam. Er war Arzt, Schriftsteller, Weltgeistlicher und Humanist. Berühmt wurde er als kreuzfideler Verfasser von zynischen und ergötzlichen Geschichten über die beiden Riesen Pantagruel und Gargantua

Die Romane wurden als Parodie auf die Romane des Rittertums geschrieben, trotzdem hebt Rabelais die Ideale des Humanismus der Renaissance hervor, insbesondere in den Bereichen Bildung und Politik. Das zuerst erschienene Buch über den Riesen Pantagruel erhielt den erklecklichen Titel:  Les horribles et épouvantables faits et prouesses du très renommé Pantagruel, Roi des Dipsodes, fils du grand géant Gargantua. Composés nouvellement par maître Alcofrybas Nasier und in der deutschen Übersetzung: Die schrecklichen und entsetzlichen Abenteuer und Heldentaten des hochberühmten Pantagruel, König der Dipsoden, Sohn des großen Riesen Gargantua. Neu zusammengestellt von Meister Alcofrybas Nasier“ – ein Anagramm aus Francoys Rabelais (Quelle: Wikipedia). Die Geschichten wurden als Lügengeschichten konstruiert, denn zum Beispiel ändern die Riesen im Verlaufe eines Buches immer einmal wieder ihre Größe, passen sie in einer Geschichte noch in einen Gerichtssaal, wohnt der Erzähler in einer anderen Geschichte sechs Monate lange in Pantagruels Mund und entdeckt dabei ein Volk, das auf dessen Zähnen lebt. - Das muss sich erst mal jemand ausdenken!

Rezeption

Spuren bis zu Günter Grass

Hanjo Kesting hält Gargantua und Pantagruel für einen der wohl größten humoristischen Romane der europäischen Kulturgeschichte. Er schreibt Gargantua und Pantagruel ...

Hanjo Kesting

erschienen in fünf Bänden um die Mitte des sechzehnten Jahrhunderts, ist der älteste Roman in dieser Reihe, der Roman des großen Gelächters und überhaupt der wohl größte humoristische Roman der europäischen Literatur, das originellste, wildeste, tollste, komischste, sprachmächtigste, aber auch unflätigste aller Bücher. Sein Autor führt darin den endlosen Kampf des Satirikers gegen die Allmacht der Dummheit und die Allgegenwart der Vorurteile. Es umfasst aber auch einen ganzen Kosmos an Geist und Gelehrsamkeit, Erfindungskraft und Sprachlust, Gelächter und Tiefsinn. (...) Es sind Orgien der Sprache und Delirien burlesker Übertreibung, die die Wortspiele der Dadaisten vorwegnehmen. Sie gipfeln in der Beschreibung körperlicher Funktionen, von Essen und Trinken, von sinnlichen Exzessen und sexuellen Phantasien.

Quelle: Kesting, Hanjo: François Rabelais, Gargantua und Pantagruel

Die französische Romantik bezeichnete später Rabelais, neben Homer, Dante und Shakespeare, als eines der Urgenies der Menschheit. Wer jetzt noch keine Lust auf das Werk hat, viele Autoren ließen sich von Rabelais inspirieren, unter anderem Cervantes und Shakespeare, Laurence Sterne und Balzac, in Deutschland Goethe, Jean Paul und zuletzt Günter Grass mit der Blechtrommel.

Rabelais Helden haben zu dem etwas geschafft, was nicht jedem Autoren gelingt, sie haben es in die Alltagssprache der Menschen geschafft. Die Bezeichnung Pantagruelismus ist die Philosophie, zu leben auf die Art Pantagruels, d.h. sich mit den Menschen und der Natur vertragen und dankbar alles das genießen, was das Leben Gutes bringt. Sie sind in der französischen Sprache bis heute durch die Adjektive pantagruélique (avoir un appétit pantagruélique – einen pantagruelischen Appetit haben) und gargantuesque (un repas gargantuesque – ein gargantuesker Schmaus) erhalten geblieben.

Gargantua

Interstellares schwarzes Loch

Der Film Interstellar

Drehbuch: Jonathan und Christopher Nolan
Regie: Christopher Nolan
Filmmusik: Hans Zimmer
2014, 169 Minuten
Mit Anne Hathaway, Jessica Chastain, Matthew McConaughey, Michael Caine, Matt Damon u.v.m.

Die Handlung des Films grob zusammengefasst: Die Menschheit ist bedingt durch den Klimawandel, Überpopulation, Pflanzenschutzmittel etc. ziemlich im Eimer, nur Mais (ausgerechnet) kann noch als Futterpflanze angebaut werden. 48 Jahre vor der im Film einsetzenden Handlung wurden 12 Wissenschaftler durch ein Wurmloch in eine ferne Galaxie ausgesendet, um die Lebensbedingungen auf Planeten in diesem System zu prüfen. Eine kleine Mannschaft macht sich nun, quasi in letzter Minute, mit dem Raumschiff Endurance (dt. Ausdauer) auf die geheime Reise durch das Wurmloch, um nach dem letzten Strohhalm der Menschen zu greifen und eine Übersiedlung einer ausgewählten Minderheit aus dem Genpool der Menschen auf einen anderen bewohnbaren Planeten zu garantieren. Neben dem Überleben der Menschheit dient die Reise noch einem weiteren Zweck: Wurmloch und schwarzes Loch sollen wissenschaftlich untersucht werden, um die Forschung an Quantenphysik und Gravitation zu unterstützen.

Viele Probleme im Film haben genau mit Schwerkraft, Zeit und Raum zu tun, mit Zeitdilatation und Quantenphysik. Zahlreiche Artikel und Dokumentationen haben diesen Aspekt des Films bis ins kleinste Detail ausgeleuchtet.

Als ich Ende 2019 das Buch zum ersten Mal las, klingelte schon etwas bei mir im Kopf. Aber nicht bei Rabelais, sondern bei Gargantua. So hatten die beiden Drehbuchautoren Jonathan Nolan und Christopher Nolan in ihrem Film ein dominierendes schwarzes Loch benannt. Die Bezeichnung Gargantua geht auf den wahrscheinlich um 1894 in La Devinière bei Chinon/Touraine geborenen französischen Schriftsteller François Rabelais zurück. Der Renaissance-Mensch Rabelais war neben seiner Schriftstellerei ein bekennender Humanist, römisch-katholischer Ordensbruder (seit 1511 der Franziskaner, ab 1524 der Benediktiner) und praktizierender Arzt. Im Grunde für seine Zeit das, was im Film die Astronauten sein müssen - universelle Genies.

Interstellar ist ein 169-minütiger Science-Fiction-Film der beiden Brüder Jonathan und Christopher Nolan. Er wurde 2014 unter der Regie von Christopher Nolan verfilmt, Hans Zimmer lieferte vorab die bemerkenswerte Filmmusik dazu. Den Film habe ich in der Zwischenzeit ungefähr fünf Mal gesehen. Dank des perfekten Zusammenspiels von Bildern und Musik, seiner packenden Handlung wird er für mich niemals langweilig. Ruhige Momente wechseln mit spannender Action ab.

In Interstellar führt die geheime Reise der Endurance zu einem riesigen schwarzen Loch, Gargantua. Im Film wird Gargantua mit einem Dialog der Astronauten der Endurance eingeführt: Gargantua sei ein sehr großes schwarzes Loch, so groß und schwer, dass ein einstündiger Besuch auf dem Planeten, der wie ein Basketball einen Reifen umkreist, 7 Jahre vergangener Zeit auf der Erde bedeutet. Der Dialog lässt sich im Drehbuch gut nachlesen.

Interstellar Screenplay

A very large black hole. Miller’s and Dr Mann’s planets orbit it. (...) A black hole that big has a huge gravitational pull. (...) That gravity will slow our clock compared to Earth’s. Drastically. (...) Every hour we spend on that planet will be maybe ... seven years back on Earth.

Quelle: Quelle: INTERSTELLAR, Jonathan Nolan und Christopher Nolan

Zusammengefasst: Die Endurance plant die Reise in ein Sternensystem, in dem ein Planet existiert, auf dem eine einzige Stunde Zeit so lange ist, wie auf der Erde sieben Jahre.

Solch ein Riese ist Gargantua, dass er die Zeit so ausbremsen kann. Das hätte dem Arzt, Mönch, Schelm und Humanisten François Rabelais bestimmt gefallen!

tl, dr;

Sprache ist schon immer der Kitt der menschlichen Geschichte. Sie schafft es so verschiedene Dinge - ein schwarzes Loch in einem aktuellen Science-Fiction-Film, eine Metapher in einem Roman des 20. Jahrhunderts, saftige Wiesen, derbe Schläge und Erdverbundenheit - mit einem wilden und ungebändigten Mönch, Arzt, Humanisten und Schriftsteller des 15. und 16. Jahrhunderts zusammenzuhalten.

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