Frau F.

Der Tag es Altpapiers

Heute hatte ich in meinem kleinen Dorf in Wuppertal eine schöne Begegnung mit einer älteren Dame. Ich half ihr und wir kamen ins Gespräch.

Der Tag nach Weihnachten. Eigentlich müsste es ›Tag des Altpapiers‹ heißen. Oder ›Tag der rutschenden Hose‹, ich trug nämlich keinen Gürtel, als ich mit meiner Frau zum Altpapiercontainer ging. Seit dem ›Tag der toten Ente‹, diesem merkwürdigen Weihnachtsfilm nach dem schönen endneunziger Roman von Nick Hornby, habe ich einen kleinen Narren an diesen Bezeichnungen absurder Tage gefressen.

Der Altpapiercontainer vor der Volksbank war voll, aber nur auf der Seite, die den Altgläsern gegenüber lag. Die Seite zur Straße hin war nur halb voll. Wie immer klemmten wir etwas Pappe senkrecht in den Schlitz. Bei der Konstruktion dieser Container muss die Vereinigung aller Handchirurgen beteiligt gewesen sein, ohne kleine Quetschungen der Finger bekommt so kein Altpapier in den Container hinein. Eine kleine Strafe für all jene, die es dort hintragen. Möglicherweise?

 

Meine Frau zog weiter, ich ging zurück und sah an der Bank neben dem Denkmal für den Cronenberger Schmiedeberuf eine etwas ältere Dame steif mit den Armen rudern. Auf der Bank stand eine rote Einkaufstasche. Ich kannte sie nicht, sprach sie aber aus einem inneren Bedürfnis hin trotzdem an.

»Sie machen mir ein schlechtes Gewissen«, sagte ich ihr, »das erinnert mich an den Sport, den ich treiben müsste, aber nicht treibe.«

Sie antwortete, »Das ist kein Sport, ich habe nur meinen Trolly vergessen und die Tasche ist mir zu schwer.« Sie schaute mich besorgt an: »Ist es Ihnen nur in diesem Hemd nicht zu kalt?«

Lächelnd erwiderte ich, »Nein. Das war ja nur zum Altpapier und zurück. Das ist nicht weit.« Mit Blick auf die Tasche frage ich die sympathische ältere Dame, »Kann ich Ihnen vielleicht eben die Tasche bis nach Hause bringen?« 

»Ach! Das wäre sehr nett. Aber ist Ihnen das nicht zu kalt? Sie werden sich erkälten!« Ich entgegnete, »Ich glaube nicht. Es ist doch so warm geworden die letzten Tage.« Nach kurzem Überlegen, ganz intuitiv frug ich sie, »Wo wohnen Sie denn? Wenn es nicht so weit ist ...«

»Ach gerade hier ums Eck in der ... straße.« 

Ich sagte zu ihr, »Den Gefallen tue ich nur zur Hälfte ihnen ...«

»... und zur anderen Hälfte tun sie es für sich, stimmts?«, unterbrach sie mich. Überrascht erfreut ergänzte ich, »Ja, weil man so viel für sich tut, wenn man etwas für andere tut.«

»Das ist sehr wahr, leider haben es viele Menschen vergessen.«

Ich nahm ihre Tasche, sie ihren Schirm und schon zogen wir los, querten, wie alle hier im Dorf, die Straße nicht über sondern hinter der Ampel und achteten auf die heranbrausenden Autos aus der Hauptstraße. 

»Vorsicht!«, rief ich, vielleicht ein wenig zu sehr in Gedanken an meine Frau, mit ihren Augenproblemen.

Wir gingen weiter den Berg hinunter und ich stellte der Dame die Frage, die ich allen Menschen hier aus dem Dorf gerne stelle, nach dem ich unverhofft mit ihnen ins Plaudern kam. »Sind Sie von hier?« 

»Nein, ich bin vor 15 Jahren hierhin gezogen.«

»Sie erfüllen eine Cliché-Vorstellung.«, erklärte ich meine Frage der erstaunten Dame. »Ich habe die Vorstellung, dass es nur mit Nicht-Cronenbergern möglich ist, im englischen Sinne Smalltalk zu betreiben.« Und ergänzend plauderte ich weiter, »Ein Cliché ist eine ehemals aus der Drucktechnik kommende Bezeichnung für Abklatsch, Probeabzug und wurde dann zu einer Metapher für schablonenhaftes Denken«. Das Dozieren konnte ich nicht lassen. Eine fürchterliche Angewohnheit von mir, Menschen an meinem Wissen von Sprache teilhaben zu lassen.

Als Teil des Gespräches war es für mich völlig normal, sie hatte das Dozierende ja gar nicht gemerkt und so war es auch in der Regel von mir überhaupt nicht gemeint. Ich benutze mein Wissen beim Sprechen wie Kissen, die ich jemand unterstützend in den Rücken lege, wie eine weiche Füllung, die alles nicht so eckig macht. Und es ist meine Natur, es sprudelt einfach immerzu aus mir hinaus, wie aus einer ungefassten Quelle.

Wir gingen weiter, mir war nicht im mindesten kalt.

Sie frug mich, »Kommen Sie beruflich aus dieser Druckecke?«

»Ja!«, antwortete ich, »Ich bin gelernter Designer und habe viele Drucksachen gemacht, interessiere mich aber auch für die Bedeutung von Worten. Darf ich fragen, was Sie beruflich gemacht haben?«.

»Natürlich«, konstatierte sie etwas abwertend, »ich war nur eine einfache Sekretärin.«

Ich gebe gerne zu, dass mich das ›nur‹ einmal mehr wieder erstaunte. Wie viele Menschen in Deutschland mögen denken, sie würden ›nur‹ dies oder ›nur‹ jenes machen. Unbedeutende Rädchen im Schatten der großen Zahnräder und Uhrzeiger des Berufslebens, in dem sie ohne Anerkennung existieren. So sprach ich dann auch, vielleicht ein wenig zu charmant aus, was ich dachte.

»Sind es nicht gerade diese Frauen, die seit über 70 Jahren dafür sorgen, dass diese Wirtschaft so gut geschmiert funktioniert?« Leider auch wieder ein Cliché, aber mit einem harten Kern wie Brockenschokolade.

»Ja, da haben Sie vielleicht recht«, sprach sie, und es ging ein regelrechter Ruck durch sie, sie wirkte plötzlich auf mich gestraffter, verjüngt, und weiter fuhr sie fort, »wenn ich bedenke, an wie viele Termine ich erinnert habe, was ich alles organisiert ...« 

Es sprudelte nur so aus ihr heraus und ich liess sie sprechen und hörte mit Vergnügen zu. Das war ein schöner, kleiner angenehmer und zu dem nützlicher Spaziergang gewesen.

Dann fiel mir etwas ein. Ich war unhöflich gewesen, ich hatte mich gar nicht vorgestellt. 

»Entschuldigen Sie. Ich hatte mich nicht vorgestellt. Mein Name ist Thomas Schürmann. Ich wohne hier oben hinter dem Café. Eigentlich hinter allen Häusern der S. Straße von Hausnummer 3 bis 9.« Wir waren angekommen. 

»Mein Name ist F., wie der F.«

Floskeln haben etwas Beruhigendes. Man muss sich keine versponnene Formel ausdenken, andererseits sind sie flach wie ein Streifen alten Tesafilms, wenn man sie nicht richtig betont und so bekräftigte ich: »Es hat mich sehr gefreut!«

»Mich auch,« sagte sie und bedankte sich noch einmal ausdrücklich. Und dann ergänzte sie noch: »Ein schönes neues Jahr wünsche ich Ihnen!«

»Das wünsche ich Ihnen auch. Wir können es alle sehr gebrauchen.«

Wir verabschiedeten uns. Ich ging fröstelnd meines Weges, sie in ihr Haus. Das war eine schöne unverhoffte Begegnung gewesen. Ich nahm es als einen Beleg für meinen Glauben.

tl, dr;

Kommentare (1)

  1. Peter Lohren 10. Januar 2024

    Schöne Geschichte, interessant, was sich so alles erleben lässt, mit ein bisschen Zeit und ein bisschen Smalltalk.


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